Vrittis. Und das Erlangen Yogischer-Weisheit

ViennaYoga by Michéle • Apr. 18, 2019

Wer ist der ‚Hauptdarsteller‘ im großen 'Yoga-Blockbuster' und was sind seine Aktivitäten?

Im 1. Kapitel der Yoga Sutren von Patanjali geht es um die ‚Theorie des Geistes‘ . Die meisten meiner bisher beschriebenen Beiträge ( Kriya Yoga & Klesas, Karma, Yama, Niyama, Asanaund Pranayama) sind aus dem 2. Kapitel der Sutren. Einzig der Beitrag über das ‚Ziel‘ beim Yoga: ‚ citta vritti nirodha‘, stammt aus dem 1. Kapitel.

Patanjali beginnt nämlich mit dem Ziel und gibt dann ab dem 2. Kapitel Informationen, wie man dieses Ziel erreicht. Bevor er allerdings mit dem ‚praktischen‘ Yoga beginnt, erläutert er in Kapitel 1 zuvor noch was unser Geist ist , was er tut und was nicht. Denn dies ist der Hauptdarsteller im großen Yoga-Blockbuster . Dadurch zeigt sich auch wofür die Übungen im Kapitel 2 dienlich und sinnvoll sind. Denn Yoga ist im Grunde (wie bereits ganz zu Beginn in meinem ersten Beitrag ‚ Was ist Yoga?‘ beschrieben) eine ‚Übungsmethode‘ und all die Praxis dient der großen Übung im Umgang mit unserem GEIST.

Wenn wir im Westen mit ‚Yoga‘ beginnen, wird selten die Frage nach dem Geist (was ist unser Geist usw.?) gestellt. Die meisten gehen in ein Yoga-Studio oder Fitness-Studio und beginnen mit Yoga weil sie fitter und beweglicher werden möchten (sie wollen einen ‚Yoga-Body‘). Oder weil sie vom Arzt zum Yoga geschickt wurden um im Anschluss oder ergänzend zum Physiotherapeuten mehr für ihre körperliche Gesundheit machen möchten. Einige haben auch davon gehört, dass sie durch Yoga leichter ihren Stress bewältigen können und gehen daher zum Yoga, ohne sich dennoch über den Geist zu informieren, sondern sich durch die körperliche Praxis dies erhoffen, weil sie irgendwo in einer Zeitschrift davon gelesen oder von jemanden davon gehört haben.

Tatsächlich kann Yoga all das aber cooler Weise noch weit, weit mehr. Yoga ist noch viel spannender als sich das die meisten, die mit Yoga einmal beginnen oder begonnen haben, je erhofft hatten.

Ich selbst habe über einen anderen Weg zum Yoga gefunden. Über meine Aerobic-Trainierinnen-Ausbildung und all die Trend-Sportarten, die ich in meiner Jugend gemacht habe (und teilweise auch immer noch mache), wäre ich vermutlich nie zum Yoga gekommen.

Mir eröffnete sich dieser Weg über mein Philosophie-Studium. Somit war meine Frage - die nach dem Geist -, die erste, die ich mir stellte und kam tatsächlich genauso zum Yoga. Daher möchte ich dir hier auch ein wenig mehr über dieses 1. Kapitel erzählen. Auch wenn die meisten mit den ‚Asanas‘ (aus Kapitel 2) ihren Yoga Weg beginnen, möchte ich dich hier ein bisschen mitnehmen auf die Reise zu dir Selbst und dir zeigen, wie cool Yoga (zudem) tatsächlich ist und womit er sich beschäftigt.

Ich stelle dir hier den ‚Super-Star‘ des Yogas vor:

Der ultimative Yoga-Hauptdarsteller ist: CITTA (der Geist).

Wir erinnern uns an das Ziel des Yoga: citta vritti nirodha (das zur Ruhe bringen der Aktivitäten unseres Geistes)

Was ist citta, nirodha und vor allem VRITTI?

„Der Geist [ citta ] ist wie das Wasser in einem See, auf dessen Grund ein Schatz ruht. Wenn das Wasser sich bewegt, entstehen Wellen, und wir können nicht auf den Grund schauen, um diesen Schatz zu sehen.“ (SVB S19)

Wenn wir traurig, deprimiert, verzweifelt sind (‚keiner mag mich‘, ‚ich will nicht‘, ‚ich kann nicht‘, ‚alles ist sinnlos‘), ist das Wasser des Sees völlig verschmutz und wir sehen nichts von dem was auf dem Grund liegt. Wenn wir zerstreut sind, wir immer alles vergessen, weil wir ständig auf viel zu vielen ‚Hochzeiten gleichzeitig tanzen‘, ist das Wasser von tobenden Wellen überzogen und wir sehen ebenfalls nichts von dem was auf dem Grund liegt.

Wenn wir uns jedoch bemühen uns zu konzentrieren und uns nicht von negativen oder viel zu vielen Gedanken ablenken und zerstreuen lassen, sondern versuchen bei einer Sache zu bleiben und dabei ruhig zu werden (in einen ‚Flow-Zustand‘ zu kommen), wird der Seegang/die Wellen ruhiger und das trübe Wasser klarer . Und umso länger wir diesen Zustand halten können und je öfter wir uns darum bemühen, umso ruhiger und klarer wird unser See und umso eher können wir den Schatz, der am Grunde liegt, erkennen – nach und nach (Geduld und immerwährendes Bemühen! Ungeduld und ‚etwas erzwingen wollen‘ führt wieder zu Verwirrung und Deprimiertheit).

Nirodha ist dann die Stufe des reinen Erkennens des Schatzes durch völlige Ruhe und Klarheit, in der es gar kein Gedanken mehr gibt. (vgl. SVB S20)

Der Geist ( citta ) ist als Ganzes ein menschliches Instrument. Dies gilt es vorweg immer mit zu bedenken. Sodass wir nicht in die fälschliche Situation und Überlegung kämen, der Geist, unsere Gedanken, unsere Erkenntnis/Intellekt wäre unsere Identität. Vorsicht davor sich mit seinen Gedanken/seinem Geist zu identifizieren!

Die Gendanken an sich sind Formen von geistigen Aktivitäten ( vrittis – heißt aus dem Sankrit übersetzt: Gedanken(welle), Aktivität) und diese werden von Patanjali kategorisiert/eingeteilt.

Die 5 VRITTIS

Vrittis sind: Gedankenwellen/Aktivitäten des Geistes/Hauptformen von Gedanken


  1. Erkenntnis (korrektes Wissen)
  2. Irrtum (inkorrektes Wissen)
  3. Einbildung (Fantasie, Affirmationen, Suggestionen)
  4. Schlaf (unbewusste Gedanken)
  5. Erinnerung (rekonstruiert vergangenes Denken und Erfahren)

Bei der Erkenntnis gibt es 3 Wege, wie diese zustande kommt. Vereinfacht genannt sind diese:


  1. Direkte Wahrnehmung
  2. Rationale Schlussfolgerung
  3. Aussagen anderer

Du ‚erkennst‘ bestimmt, dass all diese 3 unweigerlich auch zum 2. vritti – Irrtum – führen können. Bei der direkten Wahrnehmung, über unsere Sinne, können oder werden wir meist von diesen getäuscht. Auch die rationale Schlussfolgerung ist fehleranfällig und die Aussagen anderer (auch Überlieferungen aus Büchern) müssen nicht immer wahr sein oder eine wahre Erkenntnis liefern.

Insofern wissen wir und kennen wir das Gegenteil des Wissens/Erkenntnis, den Irrtum , der Hand in Hand mit unserem Wissen (unserer Erkenntnis) unseren Geist bewegt.

Die Einbildung ist durchwegs positiv zu werten und die Fähigkeit zu dieser geistigen Aktivität ist häufig für unsere Gesundheit und unser Wohlgefühl nutzbar. Kann aber auch in eine ungesunde Richtung gehen, wenn die Einbildung für ‚wahres Wissen‘ gehalten wird. Also nicht als Instrument, sondern wieder als Identifizierung verwendet wird.

Der Schlaf wird als eine Gedankenwelle ohne konkreten Geistesinhalt gesehen. Kein KONKTRETER Inhalt heißt jedoch nicht OHNE Inhalt. Denn, so sieht es Patanjali, wären wir im Schlaf in einem völlig gedankenlosen Zustand, wären wir im nirodha.

Die Erinnerung ist das Behalten und/oder verarbeiten vergangener Erfahrungen und damit ebenfalls eine Gedankenform (Form einer Gedankenwelle).

Wozu ist das Wissen über die Vrittis gut, was bringt es mir?

Alle 5 vrittis können leidvoll und auch leidlos sein. Alle können Glück oder Leid verursachen .

Und dabei es geht im Yoga nicht um die Förderung von Glück oder Reduktion von Unglück. Was bringt uns also diese Einteilung und Überlegung der Hauptaktivitäten unseres Geistes? Was haben wir davon, uns derer bewusst zu werden und uns darüber klar zu werden?

Es geht um ein von Patanjali beschriebenes Phänomen, dass wir durch diese Gedankenwellen in eine Gebundenheit gefesselt sind. Gebunden durch das Phänomen unserer Identifikation mit unseren Gedanken und folglich mit unserem Geist. Wir bleiben durch das ‚nicht-klar-machen‘ dessen, mit unserem Alltagsbewusstsein an der Oberfläche unserer geistigen Aktivitäten gebunden und können unsere wahre Identität nicht erkennen (den Schatz am Grund des Sees).

Der Geist ist zu wesentlich mehr im Stande als sich nur von seinen Gedankenwellen berieseln und berauschen zu lassen. Dieses Potential unseres Geistes ist jedoch erst erfahrbar, wenn wir uns darum bemühen, diese ‚vrittis‘ zur Ruhe kommen zu lassen. Und das wiederum ist nur möglich, wenn wir uns derer bewusst werden. Denn änderbar/kontrollierbar ist nur das, das erkannt ist. Unerkanntes wird immer unverändert und unkontrolliert weiterbestehen (wir wissen es halt nur einfach nicht). Wohin uns das volle Potential unseres Geistes bringt, das sehen wir uns im nächsten Beitrag an.

Achtung : über dieses Nichtwissen bist du jetzt hinaus. Jetzt kannst du entweder ‚citta-vritti-nirodha‘ üben oder darauf warten, bis das hier soeben Gelesene von alleine Wirkung zeigt 😉

Durch die Erkenntnis und dem Verständnis der vrittis , kommt dein Geist zu mehr Klarheit (das Wasser des Sees wird klarer) durch deine aktive Auflösung der Identifizierung mit deinen Geistesaktivitäten, kommst du zu nirodha (die Wellen, der Seegang kommt zur Ruhe). Das heißt nirodha ist nicht die Auflösung der Gedankenwellen, durch nirodha hören wir nicht auf zu denken (unser Geist hat eine Aufgabe: das Denken – nur wenn wir unseren Geist ausschalten oder vernichten, stoppen wir das Denken). Nirodha meint die Auflösung der Identifikation mit den Geistesaktivitäten. Und dies erfordert ein fortwährendes Üben. Denn unser Geist hört nicht auf zu denken und unsere Identifikation mit unseren Gedankenwellen ist ein menschliches Phänomen, das ohne unser Bemühen um nirodha zeitglich mit jeder Gedankenwelle mitschwingt/-schwimmt.

Erinnerung über Zusammenhang Kapitel 1 zu Kapitel 2

Im 1. Kapitel geht es darum sich der hier beschriebenen Gebundenheiten der Aktivitäten des Geistes bewusst zu werden. Diese Bewusstheit ist das, worüber jede/r YogIni Bescheid wissen sollte (oder davon gehört haben sollte). Alle weitere Yoga-Praxis baut darauf auf, dieses ‚ citta-vritti-nirodha‘ zu fördern und zu üben. Das zum Beispiel durch die körperliche Praxis auf der Matte durch Asanasund Pranayama.

Die Überleitung von hier zum 2. Kapitel ist die, dass die ‚Unbewusstheit‘ dessen was der Geist und seine Aktivitäten ist/sind, führt nämlich gleich direkt zum 1. Klesa: Unwissenheit (als die Hauptursache des menschlichen Leidens).

Zur Erinnerung worum es im 2. Kapitel geht – hier nochmal kurz im Überblick:


Im 2. Kapitel der Yoga Sutren von Patanjali geht es um die spirituelle Praxis mit den 4 Hauptthemen:


  1. Kriya Yoga und Klesas (Kriya Yoga vermindert die Klesas. Klesas sind Ursachen des Leidens)
  2. Samkhya-Philosopohie (was ist der Mensch, das Bewusstsein, das Universum?)
  3. Karma (Lebenseinstellung und -wirkung)
  4. Raja Yoga (astangas = 8 Glieder) – die ersten 5 Stufen: Yama , Niyama , Asana , Pranayama , Pratyahara(der Umgang mit den Sinnen - die Wahrnehmung nach innen bringen)


Und wieder sind wir einen Schritt weiter am Weg zu uns Selbst und ich freue mich bereits dir ein bisschen mehr davon zu berichten.

Bis dahin wünsche ich dir unermessliche Freude an deiner Gelassenheit an der immerwährenden Übung des ‚citta-vritti-nirodha‘ auf und natürlich auch abseits deiner Matte.

In diesem Sinne: Namaste meine Lieben! Eure Michéle.

Ich freue mich wieder auf eure comments, likes and shares.

Weiterführender Link über die Philosophie zum Thema des Geistes und seinen Aktivitäten – diesem Thema habe ich in meinem Studium einige Semester gewidmet und es ist super spannend. Der Zugang zu dem Thema über die Yoga-Philosophie ist so alt wie auch in fast jede andere diesbezügliche Theorie von der Antike bis in die Moderne einfließend. Ein sehr guter Überblick und von hier weg auch sehr viele weiterführende Links gibt es auf Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Philosophie_des_Geistes


Literaturhinweis:

P. Y. Deshpande, Bettina Bäumer: Die Wurzeln des Yoga. O.W. Barth Verlag, Bern, Neuausgabe 2010
Eckard Wolz-Gottwald: Yoga-Philosophie-Atlas. Via Nova Verlag, Petersberg, 5. Aufl., 2016

Sukadev Volker Bretz: Die Yogaweisheit des Patanjali für Menschen von heute. Verlag Via Nova, Petersberg, 6. Aufl. 2016 (SVB)

Bilder:
https://pixabay.com/de/illustrations/kopf-menschenkopf-halbprofil-196541/
https://pixabay.com/de/photos/kunst-skulptur-schrottskulptur-1881343/

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