Samkhya: Wer bin ich? Was ist der Mensch? Was ist Bewusstsein?

ViennaYoga by Michéle • Mai 30, 2019

Samkhya (er)zählt wer, was bzw. woraus du bist und wie du dich selbst finden kannst

Was wir über Yoga schon wissen

Im 1. Kapitel der Yoga Sutren von Patanjali geht es um die ‚Theorie des Geistes‘, das heißt, was der Geist ist (nachzulesen im Beitrag ‚vrittis‘). Es geht im Yoga (Ziel) um das zur Ruhe bringen der vrittis um erkennen zu können wer du bist.


Schritt 1 ist, sich der vrittis ( Gebundenheiten der Aktivitäten des Geistes) bewusst zu werden. Diese Bewusstheit ist das, worüber jede/r YogIni Bescheid wissen sollte (oder davon gehört haben sollte). Alle weitere Yoga-Praxis baut darauf auf, dieses ‚citta-vritti-nirodha‘(das zur Ruhe bringen der Aktivitäten des Geistes) zu fördern und zu üben.

Die Überleitung von hier zum 2. Kapitel ist die, dass die ‚Unbewusstheit‘ dessen was der Geist und seine Aktivitäten ist/sind, direkt zum 1. Klesa: Unwissenheit(als die Hauptursache des menschlichen Leidens) führt. Vom 2. Klesa, asmita (Egoismus, falsche Identifikation) bis hin zum letzten, 5. Klesa, abhinivesa (Anhaftung an das Leben, Angst vor dem Tod), führt es uns unweigerlichen weiter zu der Frage: Wer bin ich dann wirklich, wie kann ich völlig angstfrei sein und wie kann ich mich erkennen?


Was ist der Mensch?

Wir sind als Phänomen ein Komplex von Konditionierungen (entwicklungsbedingten, kulturellen, gesellschaftlichen). Dies wird auch als unsere menschliche Psyche bezeichnet. ‚Sie ist die Summe aller geistigen Eigenschaften und Persönlichkeitsmerkmale eines Menschen‘ – die falsche Identifizierung ist meist die, mit unserer Psyche oder mit unserem Körper (Physis). Was gibt es aber noch? Was oder wer bin ich denn dann?

Wir haben in uns die Möglichkeit einer Transzendierung (durch ‚staunen‘, hinterfragen) dieser Konditionierungen. Reines ständiges Hinterfragen (oder Ursachenforschung) wird uns vermutlich letztlich allein nicht zum Ziel der Selbstverwirklichung führen. Wie sieht das mit dem ‚Staunen‘ aus? Wie kann man sich das Transzendieren konkret vorstellen? Sehen wir uns ein wenig detaillierter an, wer wir sind. Denn um uns von den Klesas (den Leiden verursachenden Gebundenheiten) zu befreien ist es sinnvoll, über das Selbst (so wie Patanjali das interpretiert und sieht), mehr zu wissen. Und das erfahren wir über die Samkhya-Philsophie .

Soviel vorweg: die den meisten bekannte Zusammensetzung – der Mensch als ein Produkt der Psyche und Physis (Geist und Körper) ist dem dualistischen System der Samkhya-Philosophie ähnlich aber die Unterteilung passiert in dieser in purusa und prakrti. Wobei Psyche und Physis unter anderem beide zur prakrti zählen. Lasst uns zuerst herausfinden, was die Samkhya-Philosophie ist um dann am Ende nochmal eine passende, allumfassende Zusammenfassung dessen, was der Mensch ist, zu erstellen .

Was ist Samkhya (-Philosophie)?

Samkhya bedeutet aus dem Sanskrit wörtlich übersetzt: Zahl, Aufzählung, das, was etwas in allen Einzelheiten beschreibt. In der Samkhya-Philosophie geht es um die Aufzählung und Beschreibung des Seienden, der Existenz an sich.

Diese Philosophie besagt, dass es eine Wechselwirkung zwischen unseren Sinnen und dem, was „außen“ ist gibt (außerhalb der Wahrnehmung mittels unserer Sinne). Hierzu wird ein dualistisches System erstellt von purusa und prakrti . Im Vergleich dazu gibt es im indischen auch die ‚Vedanta-Philosophie‘, eine monistische Philosophie, bei der sich alle Vorgänge und Phänomene der Welt auf ein einziges Grundprinzip zurückführen lassen und dieses ist einzig das Bewusstsein. In der ‚Vedanta-Philosophie‘ gibt es somit nichts, das etwas vom Bewusstsein Getrenntes wäre.

Was sind nun in der Samkhya-Philosophie die beiden Grundprinzipien (dualistisches System = 2 in Wechselwirkung zueinander stehende Prinzipien) purusa und prakrti?


purusa und prakrti

Diese beiden Grundprinzipien sind analoge, univoke Seiens-Prinzipien. Das heißt beide sind und bestehen (unabhängig voneinander), sind aber immer in ihrer Wechselbeziehung zueinander.

‚Weder geht der purusa aus der prakrti, noch geht die prakrti aus dem purusa hervor. Beide Realitäten existieren gleich ursprünglich von Anfang an. Jedoch erst als Geist und Natur zusammentreffen, entsteht das Universum, die Welt von Geist und Natur, in der wir heute leben.‘ (*1)

Gegenüberstellung von purusa und prakrti

purusa [Skrt.: purusa (m) – Geist, Geistseele]


  • passiv
  • reines Bewusstsein (Bewusstsein an sich – das jedoch durch den Geist , der als das ‚normale Bewusstsein‘ , das zu Körper und Psyche gehörend ist, zu sehen scheint)
  • das reine Selbst
  • das Sehende
  • das Ewige (jenseits von Raum und Zeit)

prakrti [Skrt.: prakrti (w) – Natur, Ur-Natur, Materie]


  • aktiv
  • Materie (sowohl Physis also Körper-grobstofflicher Bereich als auch Psyche, also die psychische Realität des Denkens, Wollens, Empfindens-feinstofflicher Bereich)
  • auch Energie ist eine Manifestation von prakrti
  • das Gesehene
  • räumlich-zeitliche Erscheinungswelt der Natur
  • die sichtbare Welt
  • Welt der Veränderung (des Entstehens und Vergehens)
  • die objektive Welt (die auch unabhängig vom Menschen existiert und fortdauert)
  • besteht aus den 3 Eigenschaften der Natur (den 3 Gunas – Aufzählung dieser folgt)


Die prakrti ist von 3 Prinzipien bestimmt, den Gunas [Skrt.: guna - Faden, Qualität, Grundeigenschaft):


  1. Tamas (Passivität, Finsternis, Verblendung, Unwissenheit)
  2. Rajas (Aktivität, Bewegung, Leidenschaft, Getriebenheit)
  3. Sattva (Sein, Gutes, Reines, Vollkommenheit, Helligkeit, Klarheit, Licht, innere Ruhe, Ausgeglichenheit, Gelassenheit)
Gunas sind 3fache Grundelemente der Natur/Energien. Der ganze psychosomatische Organismus funktioniert aufgrund dieser Energien die untrennbar miteinander verbunden sind.


Noch kurz zur Erklärung des bei der Übersicht von purusa angedeuteten ‚reinen‘ Bewusstseins : Es gibt das ‚sehende (reine) Bewusstsein‘ im vgl. zum ‚normalen Bewusstsein‘ . Das sehende Bewusstsein ist von psychischen Verstrickungen frei (im Gegensatz zum normalen Bewusstsein).

Durch die Zusammenkunft von purusa und prakrti wird die Aktivität, Objektivität, Sichtbarkeit und Wahrnehmung der prakrti so stark, dass sich purusa in der prakrti verliert und sich (oder wir uns selbst) unwissentlich ausschließlich mit prakrti identifizieren . Was uns wieder zurück zu den Klesas und zum Karma bringt also zu dem, was unser Leid und unseren Kummer verursacht.

Patanjali sagt, dass purusa das Bewusstsein seiner wahren Natur erlangen möchte, indem er zuerst aus sich heraus- (in prakriti) und nachher wieder zu sich selbst zurückkommt. Nur über die Zusammenkunft mit prakriti erkennt purusa die Kräfte, die latent in ihm und prakrti liegen.

Und offenbar ist purusa auf der Suche nach der Erkenntnis und Offenbarung dieser Kräfte, denn sonst wüsste ich nicht warum purusa nicht einfach in sich selbst bleibt. So aber begibt sich purusa in Form von vielen individuellen Geistseelen in eine Zusammenkunft mit prakrti.

Wie kommen wir nun aus diesem Schlamassel, dass diese beiden Seiensprinzipien (das reine und das normale Bewusstsein) in ihrer Zusammenkunft verursachen, wieder heraus?

‚Durch die Überwindung der Unwissenheit verschwindet diese Verbindung (von purusa und prakrti), und der Sehende erreicht die Befreiung.‘(*2)

Unser einziges Mittel, um purusa zu helfen seine Unwissenheit durch die Zusammenkunft mit prakrti zu überwinden , ist lt. Patanjali, das ungebrochene Unterscheidungsvermögen zwischen purusa und prakrti. Das heißt zuerst das Wissen darüber was die beiden sind, um sie dadurch ununterbrochen unterscheiden zu können.

S.V. Bretz sagt: „Es ist die ständige Unterscheidung zwischen dem, was ich wirklich bin, dem Objekt des Sehens und dem Instrument der Wahrnehmung (Körper und Geist). Ich bin das Bewusstsein. Gedanken, Gefühle und Bilder sind die Instrumente der Wahrnehmung, und das Äußere ist das Wahrgenommene, das Objekt.“ (*3)

Um dieses Unterscheidungsvermögen ungebrochen aufrecht zu erhalten, bietet die Samkhya-Philosophie‚ Techniken des Beobachtens (z.B. die ‚Vipassana- Meditation ), durch die wir lernen, etwas wahrzunehmen und zu beobachten und gleichzeitig feststellen: Ich bin nicht das Wahrgenommene. Allmählich stellen wir fest: Ich bin der Beobachter, ich bin nicht das Beobachtbare. (vgl.*4)


‚Man beobachtet und erkennt, hier ist ein Mensch, der denket, handelt, fühlt, aber das ist nicht mein wahres Ich. Ich bin das Bewusstsein dahinter, der Beobachter. Man kann sagen, ich bin etwas anderes als dieser Körper. Ich bin jemand anderes als diese Gedanken und diese Gefühle, denn die kann ich alle wahrnehmen. Das kann man schulen und mit der Zeit immer mehr fühlen. So kommen wir zur Befreiung. Ein Selbstverwirklichter lebt ständig in diesem Bewusstsein.‘ (*5)

Nur durch das auseinanderhalten der Seiensprinzipien (purusa und prakriti) kann Leid reduziert werden.
Im 2. Kapitel geht es Patanjali in seinen Yoga-Sutren insgesamt darum, uns einfache praktische Übungen an die Hand zu geben, um nach und nach in diesen Zustand der Befreiung zu kommen.

Man könnte das, was der Mensch ist, als folgt zusammenfassen:


  • sein Wesen ist sein ‚In-Beziehung-sein‘
  • dieses ‚In-Beziehung-sein‘ beinhaltet einen 3fachen Komplex aus:
    • Ich-bin-heit (in Beziehung mit mir selbst)
    • Andersheit (in Beziehung zu anderen)
    • Gemeinsamkeit (in Beziehung mit anderen)
  • er unterscheidet sich zu allen anderen Lebewesen durch seine Fähigkeit zu wählen
    • durch das unzählige (indviduelle) Wählen des Menschenvon Beginn seines Lebens (als Verbindung von purusa und prakriti) an, unterscheiden wir uns und das macht jeden Menschen in seiner Gesamtheit einzigartig
  • trotz Unterschiede in der Wahl der einzelnen Individuen, ist deren Geist substanz allen gleich
  • obwohl sie sich in der Funktion unterscheiden, ist EIN Bewusstsein (reines, sehendes) die Ursache des Bewusstseins (normales) unzähliger Individuen
  • Daseinsbegründung des 'normalen' Bewusstseins ist es dem ‚Sehenden‘ beizustehen damit er seine eigene Identität verwirklichen kann
  • obwohl die Materie des Bewusstseins unsichtbar ist hört sie doch nicht auf zu Existieren
  • der Mensch entspringt der Natur
  • der Mensch ist das innerste der Welt – er ist in ihr und die Welt ist in ihm – der Mensch lebt in der Welt (Natur) und diese ist er auch, sie ist in ihm.



Kannst du dir nun in etwa vorstellen, wer du bist, du selbst? Was dein Selbst ist und wie du die Unterscheidung treffen kannst, dich 'neu' identifizieren kannst?

Wir werden von hier weg fortfahren mit den noch fehlenden Gliedern des Raja Yoga's, mit Pratyahara(5. Glied) und werden hierbei das Thema der Achtsamkeit mit einbinden und erfahren, wie uns diese Technik am Weg zu uns Selbst behilflich ist.

Bis dahin wünsche ich dir weiterhin unermessliche Freude an deiner Gelassenheit an der immerwährenden Übung des ‚citta-vritti-nirodha‘ auf und natürlich auch abseits deiner Matte.

Du möchtest deine Praxis vertiefen? Ich freue mich dich in meinen Workshops begrüssen, wiederzusehen und kennen lernen zu dürfen!

In diesem Sinne: Namaste meine Lieben! Eure Michéle.

Ich freue mich wieder auf eure comments, likes and shares.


Literaturhinweis und weiterführende Links:

P. Y. Deshpande, Bettina Bäumer: Die Wurzeln des Yoga. O.W. Barth Verlag, Bern, Neuausgabe 2010
*(2-S
112, 3,4,5-S113) Sukadev Volker Bretz: Die Yogaweisheit des Patanjali für Menschen von heute. Verlag Via Nova, Petersberg, 6. Aufl. 2016
*(1-S
101) Eckard Wolz-Gottwald: Yoga-Philosophie-Atlas. Via Nova Verlag, Petersberg, 5. Aufl., 2016

https://www.duden.de/rechtschreibung/Phaenomen
https://de.wikipedia.org/wiki/Psyche
https://www.duden.de/suchen/dudenonline/psychosomatisch
https://www.duden.de/rechtschreibung/latent

Bilder:
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